Eine Verlassene

Eine Verlassene
Weihnachten! Ein Kreis hat sich zusammengefunden, um Weihnachten in die Hütten der Armen und Verlassenen zu tragen. Wir haben uns in einem Schullokal versammelt, haben unsere Pakete gemacht, bekommen unsere Adressen, unser Tannenbäumchen und werden einem jungen Kandidaten der Theologie zugeteilt, der uns führen und den Armen die Weihnachtsandacht halten soll. Der Postschlitten wartet draußen, es ist ein eisiger Winternachmittag. Außer mit und den Kandidaten fahren noch zwei junge Mädchen mit uns. Man kann in der Kälte schwer atmen. Der Kandidat sagt dem Kutscher eine Adresse, der brummt unzufrieden: "Das ist ja ganz aus der Stadt heraus", murmelt er, "da wohnen ja nur die Ärmsten, dort sind ja gar keine Häuser mehr, nur Hütten."
"Gerade darum fahren wir ja auch hin, diese Ärmsten sollen auch Weihnachten haben", sagt der Kandidat mit seiner hellen, fröhlichen Stimme. Er ist noch sehr jung, und sein Herz ist voll begeisterter Liebe für die Armen und für sein zukünftiges Amt.
Die Fahrt will kein Ende nehmen, längst liegen die Häuser der Stadt hinter uns. An kleinen, schiefen Häuschen mit verschneiten Vorgärten fahren wir vorüber; es ist kalt, die erstarrten Hände können kaum mehr die Pakete und das Bäumchen halten. Endlich hält der Schlitten vor einem etwas größeren Steinhause, und wir sind am Ziel. Die Haustür öffnet sich auf unser Klopfen, eine Frau mit finsterem mürrischen Gesicht fragt nach unserem Begehr. Wir nennen den Namen der alten Frau, zu der wir wollen. - "Ach, zu der wollen Sie", ist die noch immer unfreundliche Antwort.
"Wir bringen ihr Weihnachten!" ruft die Stimme des Kandidaten.
"Bringen sie ihr lieber den Tod", sagt die Frau mürrisch, "dann würde sie ihnen mehr danken als für Weihnachten, sie ist schon sehr alt und stirbt noch immer nicht, sie lebt keinem zur Freude."
So redend, leuchtet sie uns mit einer Laterne die steile Treppe hinauf und weist uns an eine verschlossene Tür. Wir haben das mitgebrachte Bäumchen mit Lichtern geschmückt, haben die Gaben ausgepackt, nun öffnet der Kandidat die Tür. Wir treten in ein ziemlich großes, düsteres Zimmer, das nur durch den Schein einer kleinen Petroleumlampe spärlich erhellt ist. In einer Ecke des Zimmers steht ein Bett, aus den Kissen erhebt sich langsam ein furchtbares Gesicht, es gehört einer alten Frau. Wir sehen einen Totenschädel mit trüben, traurigen Augen, die sich auf uns richten. Kein Haar bedeckt den Kopf, wie erstarrt blickt das furchtbare Antlitz auf uns.
Der Kandidat stellt das Weihnachtsbäumchen auf den Tisch. Im Schein der Weihnachtskerzen steht er da, sein Gesicht ist licht und klar, leuchtend vor Erbarmen und Güte und voll kindlichen Gottvertrauens. Er gibt uns ein Zeichen, wir sollen singen. "Stille Nacht, heilige Nacht", erklingt durch den düsteren Raum. Dann liest der Kandidat die alte frohe Botschaft, die den Mühseligen und Beladenen Jahr für Jahr immer wieder von neuem tröstend erklingt: "Euch ist heute der Heiland geboren!"
Stumm und immer mit entsetzten Augen hat die Alte keinen Blick vom Kandidaten gewandt. Nun tritt er an ihr Bett, nimmt ihre Hand und spricht liebevoll: "Auch für sie ist heute das Christkind in die Welt gekommen."
Da schleudert sie mit einer wilden Bewegung seine Hand zu Seite und schlägt die dürren Hände vors Gesicht: "Es ist nicht wahr", schreit sie, "zu mir kommt niemand, nicht einmal der Tod. Was mache ich mit dem Christuskind, ich brauche den Tod, aber Gott hat mich vergessen!"
"Er hat Sie nicht vergessen!" Wie ein Jubel klang es aus der hellen Stimme. "Gerade für Sie, weil sie so einsam und alt sind, gelten die schönsten Verheißungen."
"Aber warum muss ich denn noch auf der Erde leben?" jammert die alte Stimme.
"Das weiß ich nicht", antwortete die junge, "das weiß nur Gott, aber vielleicht sollen Sie noch Geduld lernen, vielleicht Gehorsam. Wollen wir Gott bitten, dass er Sie das lehrt, was sie noch lernen sollen, und dass er sie dann heimgehen lässt in Frieden."
Und er kniet nieder vor dem Bett der Alten, in all dem Schmutz, in all der Düsterheit hebt er sein helles Jünglingsgesicht empor und betet wie ein Kind.
Ich werde dieses Gebet nie vergessen. Ich hatte die Empfindung, als stiege es in seiner Einfachheit vor Gottes Thron. Und dann sangen wir: "O du fröhliche, o du selige". Ach, hätte die arme, gefangene Seele doch in diesem Augenblick ihre Flügel heben und heim fliegen dürfen!
Die Kranke weint. Man hatte das Gefühl, als müsse sie sterben in diesen Tränen. Wir legen ihr die mitgebrachten Sachen aufs Bett, dann nehmen wir Abschied. Als der Kandidat ihr die Hand gibt, will sie sie küssen, erschrocken wehrt er ab.
Aufatmend stehen wir draußen unter dem dunklen Schneehimmel, keines wagt etwas zu reden. In tiefen Gedanken, schweigend, fahren wir heim.

Autor: Monika Hunnius

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