Der Geiger
Der Geiger
Autor: Monika Hunnius
Ein junger Musiker war an mich empfohlen, er war Geiger bei einer Kapelle. Es war nur wenige Wochen vor Weihnachten , als er nach Riga gekommen war. Er stand vor mir, noch fast ein Knabe, es war sein erster Ausflug in die Welt. Freunde von mir, die sich für seine Ausbildung interessierten, schrieben, dass ich mich seiner annehmen sollte. Es war ein schönes, dunkles Knabengesicht, in das ich schaute, als er vor mir stand, mit wunderbaren Augen, die mich halb trotzig, halb ängstlich ansahen. Halb trotzig , halb ängstlich war auch sein ganzes Wesen. Er wollte so gern den Künstler markieren, der seinen hohen Flug beginnt. Aber hinter der wallenden Künstlermähne und den etwas flotten Worten fühlte ich ein ängstlich schlagendes Knabenherz. Es war etwas an ihm, das einem Lust machte, ihn an die Hand zu fassen, sachte mit mütterlicher Hand über seine Künstlermähne zu streichen und ihm ganz einfach zu sagen: "Komm nur, du sollst bei mir ein Stück Heimat finden."
Er kam fast täglich zu mir, denn sein Leben bedrückte und beängstigte ihn. Es war so viel Unreifes in ihm, soviel Ahnungslosigkeit von dem, worauf es im Leben ankam. Er war noch wie ein großes Kind. In den ersten Tagen vertraute er mir sofort eine unglückliche "Lebensliebe" an, die ihn aus Deutschland in die Fremde getrieben hatte, und an der er zugrunde zu gehen schwor. Als ich es wagte, die Sache nicht gar zu tragisch zu nehmen, war er beleidigt und kam tagelang nicht zu mir, und es dauerte lange, bis ich ihn versöhnt hatte. Und nun kam Weihnachten heran. Er hatte den ganzen Tag frei und kam schon früh am Morgen zu mir. Ich übergab ihm den Schmuck des Weihnachtsbaumes, er half beim Backen in der Küche. Bei all den Vorbereitungen hatte er bald sein stolzes Künstlertum vergessen, das er sonst wie einen Mantel umgehängt hatte. Mit glühendem Eifer lief er durch die Zimmer, ließ sich noch auf letzte vergessene Besorgung schicken, kam mit hochroten Wangen und erfrorenen Händen wieder heim, lief immer hinter mir drein, um mir zu versichern, es sei ein wunderschöner Tag.
Meine alte Tante, die bei mir lebte, war ganz beglückt über das helle, frohe Knabenlachen, das durch die Zimmer klang. Als wir um den Mittagstisch saßen, erklärte ich, bis halb sechs müssten die Vorbereitungen beendet sein, denn dann ziehen wir alle in die Kirche zum Festgottesdienst. "Ich gehe nicht in die Kirche", sagte er wichtig, indem er den Kopf zurückwarf, "ich halte nichts davon, außerdem bin ich katholisch, ich mag nicht die lutherischen Gottesdienste."
"Haben Sie schon einen mitgemacht?" fragte ich, "kennen Sie unsere Festgottesdienste?" Er schlug verlegen die Augen nieder. "Nein", sagte er ein wenig kleinlaut. "Nun, dann probieren Sie es doch einmal", meinte ich freundlich. Um halb sechs stand er fertig gerüstet vor mir. "Wenn Sie mich mitnehmen", sagte er leise, "möchte ich wohl gern in die Kirche mit Ihnen."
Als wir in unserem alten Dom standen, den die Gemeinde dicht gedrängt Kopf an Kopf füllte, wurde es still. Es war ein liturgischer Gottesdienst; wunderbarer Chorgesang klang durch den Raum. Dazwischen verlas der Pastor die Weihnachtsgeschichte, und wir sangen Weihnachtslieder. Auf dem Altar standen die riesengroßen Tannenbäume voll Lichterglanz. Ich streifte heimlich meinen Nachbarn mit den Blicken, er hatte sich ganz vergessen, sich, seinen Katholizismus, seinen Widerspruch und seinen Trotz. Versunken stand er neben mir, mit dem Blick auf die Weihnachtsbäume, verloren in der Weihe der Stunde, mit einem wunderschönen Ausdruck in seinen großen, strahlenden Augen. Als zum Schluss der Chorgesang leise erklang: "Stille Nacht, heilige Nacht!", da sah ich, wie seine Lippen bebten. Ich hatte einen großen Strauß Frühlingsblumen bei mir, der zu einer Kranken gebracht werden sollte. Wir gingen zusammen bis vor die Tür der Kranken, dann bat ich ihn, hineinzugehen und ihr den Strauß zu bringen. "Aber geben Sie ihn selbst in ihre Hände", sagte ich. Es dauerte lange, bis er wieder zu mir trat. "Nun?" fragte ich. Er konnte zuerst nicht reden. "Ich war bei der Kranken", sagte er endlich bewegt, "und gab ihr den Strauß. Sie hat mich gar nicht gefragt, wer ich sei, von wo ich käme, sie hat sich nur gefreut." Schweigend wanderten wir durch die verschneiten Straßen meiner Wohnung zu. Heller Lichterglanz schien auf unserem Wege, und in den Häusern zündete man schon die Weihnachtsbäume an. Mein Gefährte schwieg. "Welch ein merkwürdiger Tag", sagte er plötzlich, "mir ist`s, als ob es wirklich Frieden auf Erden wäre."
Und nun kam auch bei uns die Stunde des Bescherens. Meine alte Tante und mein Schützling waren "die Kinder", die hinter der Tür harren mussten, bis das Zeichen zum Herankommen erklang. Und dann öffnete sich die Tür und wir sangen: "Von Himmel hoch, da komm ich her!", und unser Junge bekam seine Geschenke, die ihn in einen Freudenrausch versetzten. Nach dem Abendessen saßen wir im Weihnachtszimmer, es duftete nach Tannen, nach Wachs und all den Frühlingsblumen, die das Zimmer füllten. Da ging ihm das Herz auf, und er erzählte von "zu Hause", ein trostloses, ödes Bild entwarf er uns. Streit zwischen den Eltern, keine Liebe, kein Verstehen; im erbitterten Kampf ums Dasein war in ihrem Hause alle Liebe4 erloschen und mit der Liebe die Freude. Wir hörten still zu, als sich so Bild auf Bild vor unseren Augen entrollte von seinem Leben, in dem die Sonne gefehlt hatte, und dessen Alltag von keinem Glanz durchstrahlt war. Nun schwieg er. "Armes Kind!" sagte ich unwillkürlich, das Schweigen brechend. Da bückte er sich tief und barg sein Gesicht aufschluchzend in seine Hände. Es war ganz still im Zimmer. Man hörte nur das Knistern eines brennenden kleinen Tannenzweiges, der einem Lichtlein zu nahe gekommen war, und das Schluchzen, das aus seiner jungen Seele brach. Dann ließ er die Hände herabsinken und hob sein tränenüberströmtes Gesicht empor. "Ich habe noch nie ein Weihnachtsfest gehabt", sagte er, "jetzt weiß ich es, dieses war mein erstes Weihnachtsfest."
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